Als Menschen ist unser Leben ausgespannt zwischen Glück und Leid. Es bedarf deshalb im Ernstfall für die eine wie die andere Situation eine angemessene Sprache und ein hörendes Gegenüber.
Menschsein und damit auch das Gebet darf – wenn es ernst genommen wird – keinen Lebensaspekt ausklammern. Deshalb gehört die Klage wesentlich zum menschlichen Leben dazu. Klage verhindert, dass Grenzsituationen weder aus der Gottesbeziehung und noch aus dem eigenen Bewusstsein ausgeschlossen werde.
Klage macht deutlich, dass der Mensch ernst genommen wird in seiner Beziehung zu Gott, aber auch dass Gott ernst genommen wird als Partner für das ganze Leben.
Dies entspricht auch einer offenen zwischenmenschlichen Begegnung zwischen Partnern, die im Moment nicht einer Meinung sein können: Eine offene Äuße­rung in einer strittigen Sache ist eine Notwendigkeit in einem ehrlichen Gespräch, ist eine Notwendigkeit in einem Gespräch zwischen Gesprächspartnern, die sich gegenseitig achten und ernst nehmen.
Als Christen ringen wir immer wieder um eine solche Beziehung. In ehrlichen Worten unsere Erfahrungen in Worte zu fassen – manchmal auch nur zu stammeln.
Jesus nimmt Gott als Lebenspartner auch noch angesichts unbegreiflichen Leidens am Kreuz ernst. Ihm selbst fehlen die Worte. Er greift zurück auf den biblischen Psalm 22:

Mein Gott,
mein Gott,
warum hast du mich verlassen?

Ein kurzer Satz gibt der unbegreiflichen Spannung einen Ausdruck. Das Gefühl wie auch die Erfahrung von Verlassenheit und Einsamkeit werden klar benannt. Zugleich sucht Jesus fragend nach einem Gegenüber, das versteht, ernst nimmt und auch noch in der äußersten Not an seiner Seite bleibt: „Mein Gott, mein Gott!“

Unsere Einladung:
  • Suchen Sie für Ihre Sorgen, Ängste und Nöte nach Worten, die diese Gefühle und Erfahrungen zum Ausdruck bringen.
  • Beschreiben Sie Ihre persönliche Wahrnehmung.
  • Lassen Sie sich von Klageworten- und Gebeten aus der Bibel, der Literatur oder Ihrer eigenen Biographie inspirieren.
  • Reden Sie im Gebet mit Gott oder im Austausch mit einem vertrauten Menschen darüber.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?
Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
Aber du bist heilig, du thronst über dem Lobpreis Israels.
Dir haben unsere Väter vertraut, sie haben vertraut und du hast sie gerettet.
Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet.
Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die Lippen, schütteln den Kopf:
Wälze die Last auf den HERRN! Er soll ihn befreien, er reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat!
Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, der mich anvertraut der Brust meiner Mutter.
Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott.
Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe und kein Helfer ist da!
Viele Stiere haben mich umgeben, Büffel von Baschan mich umringt.
Aufgesperrt haben sie gegen mich ihren Rachen, wie ein reißender, brüllender Löwe.
Hingeschüttet bin ich wie Wasser, gelöst haben sich all meine Glieder, mein Herz ist geworden wie Wachs, in meinen Eingeweiden zerflossen.
Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, die Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in den Staub des Todes.
Denn Hunde haben mich umlagert, eine Rotte von Bösen hat mich umkreist. Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt.
Ich kann all meine Knochen zählen; sie gaffen und starren mich an.
Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand.
Du aber, HERR, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!
Entreiß mein Leben dem Schwert, aus der Gewalt der Hunde mein einziges Gut!
Rette mich vor dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Büffel! - Du hast mir Antwort gegeben.
Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben.
Die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn; all ihr Nachkommen Jakobs, rühmt ihn; erschauert vor ihm, all ihr Nachkommen Israels!
Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie.
Von dir kommt mein Lobpreis in großer Versammlung, ich erfülle mein Gelübde vor denen, die ihn fürchten.
Die Armen sollen essen und sich sättigen; den HERRN sollen loben, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer.
Alle Enden der Erde sollen daran denken/ und sich zum HERRN bekehren: Vor dir sollen sich niederwerfen alle Stämme der Nationen.
Denn dem HERRN gehört das Königtum; er herrscht über die Nationen.
Es aßen und warfen sich nieder alle Mächtigen der Erde. Alle, die in den Staub gesunken sind, sollen vor ihm sich beugen. Und wer sein Leben nicht bewahrt hat,
Nachkommen werden ihm dienen. Vom Herrn wird man dem Geschlecht erzählen, das kommen wird.
Seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat es getan.

„Du aber, Herr,
halte dich nicht fern.
Du. meine Stärke.
Eile mir zu Hilfe!“

HALTE DICH NICHT FERN!

Ich weiß nicht,
wie es gehen wird –
oft
und jetzt.

Ich hoffe,
dass ich reden kann –
oft
und jetzt.

Ich sehne,
dass du leben kannst –
oft
und jetzt

bei uns.

„Du aber, Herr, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe.“[1]


[1]         Langwald, M.-L., WiederBeLeben, Düsseldorf, 1996, S. 29.

Mein Gott, mein Gott - warum hast du mich verlassen?
Ich bin zur Karikatur geworden,
das Volk verachtet mich.
Man spottet über mich in allen Zeitungen.

Panzerwagen umgeben mich. 
Maschinengewehre zielen auf mich,
elektrisch geladener Stacheldraht schließt mich ein.
Jeden Tag werde ich aufgerufen,
man hat mir eine Nummer eingebrannt
und mich hinter Drahtverhauen fotografiert.
Meine Knochen kann man zählen wie auf einem Röntgenbild,
alle Papiere wurden mir weggenommen.
Nackt brachte man mich in die Gaskammer,
und man teilte meine Kleider und' Schuhe unter sich.

Ich schreie nach Morphium, und niemand hört mich.
Ich schreie in den Fesseln der Zwangsjacke,
im Irrenhaus schreie ich die ganze Nacht,
im Saal der unheilbar Kranken,
in der Seuchenabteilung und im Altersheim,
in der psychiatrischen Klinik ringe ich schweißgebadet
mit dem Tod.
Ich ersticke mitten im Sauerstoffzelt.
Ich weine auf der Polizeistation,
im Hof des Zuchthauses,
in der Folterkammer und im Waisenhaus.
Ich bin radioaktiv verseucht,
am meidet mich aus Furcht vor Infektion.

Aber ich werde meinen Brüdern von dir erzählen.
Auf unseren Versammlungen werde ich dich rühmen.
Inmitten eines großen Volkes
werden meine Hymnen angestimmt.
Die Armen werden ein Festmahl halten.
Das Volk, das noch geboren wird,
unser Volk, wird ein großes Fest feiern.[1]


[1]         Ernesto Cardenal nach Bürger, R. u.a., Auswuchten, Paderborn, 21992, S.76-77.